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Damit der Schweiz der Strom nicht ausgeht

Der Schweiz droht der Strom auszugehen, schreibt der ehemalige Chef der ABB Schweiz, Edwin Somm, in der NZZ vom 25. September 2018.

VERSORGUNGSSICHERHEIT

Damit der Schweiz der Strom nicht ausgeht

Gastkommentar

von Edwin Somm

Seit mehr als zehn Jahren sieht sich die Schweiz gezwungen, jeweils im Winter Strom zu importieren, um ihren Bedarf zu decken. Dies entsprach der bisherigen Strategie, die darin bestand, möglichst viel Strom selber herzustellen, jedoch zu importieren, was sich darüber hinaus als nötig erwies. Deutschland und Frankreich sind dafür die wichtigsten Lieferanten.

Nachdem 2011 in Japan ein Tsunami das Kernkraftwerk von Fukushima zerstört hatte, setzte weltweit eine intensive Debatte über die Zukunft unserer Energieversorgung ein. Für viele Politiker schien der Zeitpunkt gekommen, für immer aus der Kernenergie auszusteigen. Am Ende vollzogen zwar nur wenige Länder diesen Schritt, insbesondere Deutschland und die Schweiz. Gleichzeitig wurden aber überall die Anstrengungen gesteigert, für die Stromerzeugung mehr sogenannte erneuerbare Energien beizuziehen. Mit Blick auf den Klimawandel galt es als unerlässlich, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern.

Gigantische Subventionen

Dieser neue Ansatz schlug sich nirgendwo so deutlich nieder wie in Europa und nirgendwo so radikal wie in Deutschland – sowie mit Abstrichen in der Schweiz. Die deutsche Politik einigte sich auf einen definitiven Ausstieg aus der Kernenergie und legte einen Zeitplan fest, dementsprechend jedes derzeit laufende Kernkraftwerk schon bald vom Netz genommen werden soll. Mit gigantischen Subventionen wurden zugleich Wind- und Solaranlagen gefördert und erweitert.

Weil dieser Umstieg auch erneuerbare Energien aber nicht ausreichte, um den Strombedarf einer der grössten Volkswirtschaften der Welt zu befriedigen, kamen zusehends Kohle- und Gaskraftwerke wieder zum Einsatz. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde denn auch das ursprüngliche politische Ziel, den CO2-Ausstoss von Deutschland zu reduzieren, bisher klar verfehlt.

Auch die Schweiz folgte mit ihrer «Energiestrategie» dem deutschen Vorbild. Man entschied sich, künftig auf die Kernenergie zu verzichten und stattdessen auf Wasser, Wind und Sonne zu setzen. Im Gegensatz zu Deutschland behielt sich die Schweiz immerhin vor, die bestehenden Kernkraftwerke so lange noch zu nutzen, wie deren Sicherheit dies zulässt. Weil aber auch in der Schweiz absehbar war, dass die neuen, CO2-armen Energiequellen nicht genügten, wurde implizit darauf vertraut, dass die unvermeidliche Versorgungslücke mit Strom aus dem Ausland gefüllt werden könnte.

Tatsächlich ist diese enorm: Sollten die schweizerischen Kernkraftwerke, wie von der Politik vorgesehen, einmal stillgelegt werden, verschwinden Kapazitäten von rund 3300 Megawatt pro Jahr, die samt und sonders durch Strom aus wetterunabhängiger Produktion ersetzt werden müssen. Dies macht unser Land zu einem grossen Teil vom Ausland abhängig – ausgerechnet unser Land, das zu den europäischen Pionieren der Stromversorgung zählt und das sich seit mehr als hundert Jahren weitgehend selber mit Strom versorgen konnte.

Unter den neuen Bedingungen der Energiestrategie wird die Schweiz im Winter jeweils 35 bis 45 Prozent ihres gesamten Strombedarfs mit Importen sicherstellen müssen. Die Energiestrategie ist mit anderen Worten eine «Importstrategie».

Beträchtliche Risiken

Diese Strategie birgt beträchtliche Risiken. Schon bald, darauf weisen alle Prognosen hin, dürfte die Schweiz ausserstande sein, den nötigen Strom zu importieren – und zwar nicht etwa weil unsere Geschäftspartner im Ausland ihre vertraglichen Verpflichtungen missachteten, sondern weil sie diesen schlechterdings nicht mehr nachkommen können. So wie sich bei uns der Strom zum knappen Gut verwandelt, so wird er auch den Deutschen und den Franzosen ausgehen.

Der Europäische Netzbetreiberverband hat bereits 2015 warnend darauf hingewiesen, dass Deutschland vom Jahr 2025 an selber zu Importen genötigt sein wird, da dem Land zu Spitzenzeiten bis zu 9000 Megawatt fehlen; das kommt dem neunfachen Output des Kernkraftwerks Gösgen gleich. Und obschon Frankreich keineswegs die Absicht hat, die Kernenergie auslaufen zu lassen, wird auch dieses Land im Jahr 2025 zu wenig Strom für den Eigenbedarf zur Verfügung haben: Der europäische Netzbetreiberverband rechnet damit, dass die Franzosen dann 3500 Megawatt oder 3,5-mal die Produktion von Gösgen einführen müssen.

Darüber hinaus geht der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission davon aus, dass bis 2025 etliche Kohlekraftwerke den Betrieb einstellen, was zu einem zusätzlichen Mangel an Strom in der Grössenordnung von 45 000 Megawatt führt. Diese Lücke entspricht der 45-fachen Leistung des AKW Gösgen, oder um es noch drastischer auszudrücken: Das entspricht der zweifachen Stromproduktion der gesamten Schweiz.

Wenn die Schweiz hofft, ihr selbstverschuldetes Versorgungsproblem künftig mit vermehrten Importen aus dem Ausland lösen zu können, dann dürfte sie bitter enttäuscht werden. Selbst wenn unsere Nachbarn uns helfen wollten, könnten sie nicht. Am Stromkongress 2017 äusserte sich der Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission, alt Ständerat Carlo Schmid, klar: «Die Versorgungssicherheit in hundert Prozent der Fälle über Importe abzusichern, ist kein gangbarer Weg.» Die Schweiz sieht sich im Übrigen mit zusätzlichen Risiken konfrontiert. Sie sind politischer Natur: Strebt die Schweiz den unbeschränkten Stromhandel mit der EU an, der ihr den Import auf lange Sicht ermöglicht, erhält sie ein entsprechendes Abkommen nur, wenn sie gleichzeitig das umstrittene sogenannte Rahmenabkommen abschliesst. Das verlangt die EU – und es scheint ausgeschlossen, dass Brüssel von dieser Forderung abweicht. Ob das Rahmenabkommen je verwirklicht wird, steht derzeit in den Sternen.

Sofortmassnahmen gefordert

Das Risiko für uns Bürger und Konsumenten, aber auch für unsere Unternehmen, die eine sichere Stromversorgung genauso brauchen wie etwa einen funktionierenden Zahlungsverkehr, ist schlicht untragbar. Völlig zu Recht hat das VBS im Juli 2015 warnend hervorgehoben, dass «eine mögliche schwere Strommangellage für die Schweiz das grösste Risiko» darstelle.

Aus diesem Grund schlage ich folgende Sofortmassnahmen vor: Der Bundesrat handelt mit Deutschland und Frankreich bilateral langfristige Bezugsverträge aus. Es wird dafür gesorgt, dass die Elektrizitätswirtschaft die Speicherkapazität der Speicherseen vollständig in Reserve hält. Überdies sollte der Export von Strom im Sommer eingestellt werden. Ein liberaler Strommarkt ist zu schaffen, damit private Investoren wieder bereit sind, neue Kraftwerke zu finanzieren.

Auch ein maximaler Ausbau von Anlagen, die mit erneuerbarer Energie betrieben werden, reicht nicht aus, um unsere Versorgung sicherzustellen. Die schweizerische Eigenproduktion muss daher so rasch wie möglich erhöht werden: Aus zeitlichen Gründen bleibt uns keine andere Option übrig als der zügige Bau von Gas-Dampf-Kraftwerken (GuD). Es ist mit einer Vorlaufzeit von fünf bis zehn Jahren zu rechnen, bis diese neuen Anlagen realisiert sind.

Es ist dringend nötig, dass die Politiker und Wirtschaftsführer die drohenden Gefahren endlich erkennen und entsprechende Gegenmassnahmen einleiten. Insbesondere ist der Gesamtbundesrat gefordert, seine grosse Verantwortung für eine sichere Stromversorgung unseres Landes wahrzunehmen. Schon in Kürze sind in Europa nicht mehr ausreichend steuerbare und auf den präzisen Bedarf dosierbare Stromerzeugungskapazitäten vorhanden.

(NZZ, Di 25. Sept. 2018)