Politik verdrängt Probleme
Der Ausbau des Stromsystems wurde zu lange vernachlässigt. Nur mit Erneuerbaren allein lässt sich das Winterdefizit nicht beseitigen.
Von Eduard Kiener
Die für diesen und die nächsten Winter befürchtete Stromknappheit ist bloss ein Vorbote künftiger Versorgungsprobleme. Wegen der seit Langem völlig unzureichenden Investitionen in das Stromsystem steht es um die Versorgungssicherheit heute so schlecht wie vor einem halben Jahrhundert, als letztmals über Notmassnahmen diskutiert werden musste.
Die energiepolitischen Herausforderungen werden massiv zunehmen: Mit der Energiestrategie 2050 sollen die Kernenergie ersetzt und die Treibhausgase bis 2050 auf null reduziert werden. Und das mit erneuerbaren Energiequellen.
Statt Wärme aus fossilen Brennstoffen zu erzeugen, wird sie künftig zum grossen Teil durch elektrische Wärmepumpen bereitgestellt. Für den Benzin- und Dieselersatz steht die Elektromobilität im Vordergrund. Der Strom wird, bei deutlich steigendem Verbrauch, immer mehr zur dominierenden Energie. Die Stromversorgungssicherheit ist damit der Massstab für Erfolg oder Misserfolg der Energiepolitik.
Weil neue nukleare Kraftwerke immer noch gesetzlich verboten sind und fossile dem Netto-Null-Ziel zuwiderlaufen, soll der Strom aus erneuerbaren Energien stammen. Die Wasserkraft kann nur wenig zusätzliche Energie liefern, bleibt aber dank den Speicherkraftwerken die zentrale Säule der Stromversorgung. Fotovoltaik, Wind, Biomasse und Geothermie sollen die übrige benötigte Energie liefern. Ihre Förderung steht seit der Energiestrategie 2050 im Zentrum der Energiepolitik.
Die Fotovoltaik weist das weitaus grösste Produktionspotenzial auf, sie wird zur wichtigsten neuen erneuerbaren Stromquelle. Sie hat aber gewichtige energetische Nachteile: nachts fehlende Erzeugung, das ungünstige Produktionsverhältnis Sommer/Winter, oft fehlender Sonnenschein.
Wenn die Fotovoltaik so ausgebaut wird wie nötig, werden die schwankenden, hohen Einspeiseleistungen in wenigen Jahren das Netz überfordern. Deshalb muss das gesamte Stromsystem (Speicherung, Netz und Netzregelung) im Gleichschritt mit dem Solarausbau weiterentwickelt werden.
Diese umfassende Sicht fehlt in der Energiegesetzgebung. Die Energiewende wurde nie zu Ende gedacht. Die Politik hat die sich verschärfenden Systemprobleme bisher weitgehend verdrängt. Darüber täuschen auch die vielen Gesetzesrevisionen nicht hinweg.
Auch in der hängigen Revision des Energie- und des Stromversorgungsgesetzes mit dem sogenannten Mantelerlass wird der notwendige Ausbau des Stromsystems sträflich vernachlässigt. Es sollen bloss zwei neue Massnahmen eingeführt werden; die Energiereserve für kritische Versorgungssituationen wird gesetzlich verankert und ein Zubau von 2 TWh gesicherter Winterstromproduktion postuliert, mit Priorisierung der 15 Speicherkraftwerk-Vorschläge des «Runden Tisches». Das sind richtige Schritte, sie werden jedoch die Probleme unserer Stromversorgung nicht lösen.
Der Bundesrat geht im Mantelerlass von den Energieperspektiven 2050+ aus, die allerdings zwei grundlegende Fehlannahmen aufweisen. Erstens wird bloss eine ausgeglichene Strom-Jahresbilanz 2050 anstatt Versorgungssicherheit im Winter angestrebt. Zweitens wird von der Wunschvorstellung ausgegangen, benötigter Strom könne auch künftig jederzeit importiert werden.
Eine Entwicklung gemäss den Energieperspektiven 2050+ würde zu einer im Winter weiterhin unverantwortlich hohen Stromimportabhängigkeit führen. Ohne Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke auf 60 Jahre müssten in den Wintermonaten 2035 etwa 38,5% des Stroms eingeführt werden, 2050 immer noch 20,5%. Zum Vergleich: Im Winter 2021/22 betrug der Importüberschuss bereits 23% des Landesverbrauchs oder fast das Doppelte der Winterproduktion des Kernkraftwerks Gösgen.
Zudem zeigt sich längst, dass der Zubau an erneuerbarer Stromerzeugung viel zu gering ist. Die Stromerzeugung aus Fotovoltaik, Wind, Biomasse und Geothermie betrug 2021 erst 5 TWh, nach milliardenschwerer Förderung seit 2008: Die Forderung der Eidgenössischen Räte, die Stromerzeugung aus neuen Erneuerbaren sei bis 2035 auf 35 TWh zu steigern, ist realitätsfern. Dazu müsste der jährliche Zuwachs sofort mehr als verdoppelt werden, dies ohne Erhöhung der finanziellen Mittel, da der Netzzuschlag nicht erhöht wird.
Selbst wenn das Ziel erreicht würde, könnte der weit überwiegend aus Fotovoltaik stammende Strom ein winterliches Defizit nicht verhindern, auch wenn er teilweise aus alpinen Anlagen stammen sollte. Die Stromimportabhängigkeit würde gemildert, aber nicht beseitigt.
Wie teuer allein eine Stromknappheit wäre, zeigen die vorsorglichen Massnahmen dieses Winters deutlich. Bisher kosteten sie etwa 900 Mio. Fr. – ohne dass auch nur eine zusätzliche Kilowattstunde produziert wurde. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, muss dringend sicher verfügbare Winterstromerzeugung zugebaut werden.
Wenn weiterhin die Vision einer voll erneuerbaren Energieversorgung angestrebt werden soll, ist nicht nur sehr viel mehr erneuerbarer Strom erforderlich, sondern endlich auch ein zielführender gesetzlicher Rahmen, mit Vorgaben und allfälligen Fördermassnahmen. Der Ausbau der Stromspeicher ist sicherzustellen, sie werden künftig immer mehr für den sicheren Netzbetrieb benötigt.
Fotovoltaik-Anlagen müssen bei temporären Überschüssen abgeregelt werden können. Die Förderung des erneuerbaren Stroms und die Tarife sind bedarfsgerecht auszugestalten, den Kleinkonsumenten ist der Netzzugang zu gewähren. Es braucht Anlagen zur Produktion von synthetischen Brenn- und Treibstoffen für Energieanwendungen, die nicht durch Elektrizität abgedeckt werden können.
Und schliesslich ist festzulegen, wer für die Versorgungssicherheit verantwortlich sein soll. Weitere Gesetzesrevisionen werden folgen müssen. Nicht zuletzt ist ein Stromabkommen mit der EU unerlässlich.
Für eine sichere Stromversorgung braucht es im Winter ausreichend Bandenergie. Diese kann nur die Kernenergie klimaschonend liefern. Sie bleibt auch langfristig nötig. Es ist deshalb bedauerlich, dass sich das Parlament nicht durchgerungen hat, das Verbot neuer KKW-Rahmenbewilligungen aufzuheben. Dieser Schritt wäre nötig, ist aber offenbar politisch (noch) zu heikel. Gesellschaft und Politik müssen sich fragen, ob sie Versorgungssicherheit und Klimaschutz wollen oder den Ausstieg aus der Kernenergie. Alles gleichzeitig, ist nicht zu haben.
Eduard Kiener ist ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Energie und Mitglied des Expertenbeirates des Energie Club Schweiz. Der Beitrag ist zuerst in der Finanz und Wirtschaft vom 27.03.2023 erschienen.