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Kernkraft könnte das Problem lösen

Selbst wenn der Zubau von Windkraft und Solarenergie gelingt, bleibt die Versorgungssicherheit auf der Strecke. Dass die Schweizer Politik angesichts dieses Problems nicht über Kernenergie diskutieren will, ist ein intellektuelles Armutszeugnis.

Von Eduard Kiener

Mit der in der Volksabstimmung 2017 angenommenen Energiestrategie 2050 wurde die Energiepolitik neu auf den Ausstieg aus der Kernenergie ausgerichtet. Die wegfallende nuklear erzeugte Elektrizität – gegen 40 % der schweizerischen Stromproduktion oder 10 % des Gesamtenergieverbrauchs – soll durch Strom aus erneuerbaren Quellen, also aus Wasserkraft, Fotovoltaik, Wind, Biomasse und vielleicht auch Geothermie ersetzt werden.

Im November 2020 hat der Bundesrat mit der Forderung nach Klimaneutralität (Netto-Null), die vom Parlament im September 2022 auf Gesetzesebene bestätigt wurde, die energiepolitischen Herausforderungen noch wesentlich verschärft. Bis 2050 müssen die fossilen Energien Erdöl, Erdgas und Kohle, d.h. 60 % des Energieverbrauchs, weggespart oder substituiert werden. Diese Dekarbonisierung wird aus technischen und wirtschaftlichen Gründen weitgehend mit Strom erfolgen, durch Wärmepumpen, Elektromobilität und auch durch synthetische Brenn- und Treibstoffe. Der Stromverbrauch dürfte gemäss den optimistischen neuen Energieperspektiven 2050+ bis zur Jahrhundertmitte um 27 % auf 84 TWh steigen. Da die Wasserkraftproduktion weitgehend ausgebaut ist (sie wird aber für den sicheren Betrieb des Stromsystems zentral bleiben), müssen die neuen Erneuerbaren Fotovoltaik, Wind und Biomasse zur zweiten Säule der künftigen Energieversorgung werden. Ihr Ausbau entscheidet über Erfolg oder Misserfolg von Energiewende und Netto-Null.

In den Energieperspektiven 2050+ wird für 2050 ein Bedarf an neuer erneuerbarer Stromproduktion von 39 TWh ermittelt, im Jahr 2021 brachte diese erst 5 TWh. Die ungenügenden jährlichen Zuwachsraten müssten in einem Masse vervielfacht werden, wie es aufgrund der Investitionskosten, mangelnder Investitionsbereitschaft, fehlenden Fachleuten, knappem Geräte- und Materialangebot, Bewilligungsproblemen und teilweise verzögerter Netzanschlüsse kaum möglich erscheint. Daran werden auch die angekündigten alpinen Fotovoltaikanlagen nichts ändern. Auch der notwendige Systemausbau (Speicher, Netz) ist nicht gewährleistet.

Selbst wenn die Zielgrösse von 39 TWh Strom aus neuen Erneuerbaren im Jahr 2050 erreicht würde, wäre die Energieversorgung nicht gesichert. Die Energieperspektiven 2050+ weisen nämlich zwei grundsätzliche Fehler auf: Sie betrachten Jahresbilanzen und gehen davon aus, dass immer genug Strom importiert werden kann. Die riskante Auslandabhängigkeit bleibt weiterhin hoch und würde, ohne Kernenergie, in den Wintermonaten 2050 immer noch 9 TWh oder 20 % des dannzumaligen Verbrauchs betragen.

Die bisherige Entwicklung zeigt mit aller Deutlichkeit, dass schon die Annahmen und Versprechungen der Energiestrategie 2050 unrealistisch waren; erst recht gilt dies für Netto-Null. Weder eine sichere Energieversorgung noch Klimaneutralität lassen sich allein mit erneuerbaren Energien bis 2050 erreichen. Dies sollte von der Gesellschaft und vor allem der Politik endlich zur Kenntnis genommen werden. Sie dürfen der entscheidenden Frage nicht weiterhin ausweichen: Wo sollen unsere Prioritäten liegen, bei der Versorgungssicherheit und dem Klimaschutz oder beim Kernenergieausstieg? Es ist nicht alles gleichzeitig zu haben.

Der Ausstieg aus der Kernenergie ist die grösste energiepolitische Schwachstelle. Er führt nicht nur zu zusätzlichen Versorgungsrisiken, er ist auch wirtschaftlich und für das Klima nachteilig, wie Untersuchungen des Paul Scherrer Instituts zeigen. Leider werden deren Resultate totgeschwiegen, wohl weil sie der Politik und auch der Verwaltung nicht passen. Die Kernenergie ist energiewirtschaftlich vorteilhaft, denn sie produziert Bandenergie mit hohem Winteranteil, weist nach der Wasserkraft den geringsten spezifischen Treibhausgasausstoss aus und würde eine kostengünstigere und raschere Energiewende ermöglichen. Der politische Widerstand gegen neue Kernkraftwerke wird jedoch trotzdem weiterhin stark bleiben, sie wurden zu lange verteufelt.

Die Argumente gegen die längerfristige Weiternutzung der Kernenergie sind vielfältig. Der Ausstieg sei vom Volk beschlossen worden und deshalb nicht anzutasten. Die Stimmenden glaubten offensichtlich den bundesrätlichen Beteuerungen, dass der Ausstieg mit den vorgeschlagenen Massnahmen ohne grössere Schwierigkeiten machbar sei. Es wolle niemand neue Kernkraftwerke bauen, wird von Politik und Stromwirtschaft betont. Das würde wohl ändern, wenn neue Kernkraftwerke wieder gesetzlich möglich und Subventionen winken würden, sie müssten kaum 60 % betragen wie bei den grossen Fotovoltaikanlagen.

Das wohl unsinnigste Argument aus Politik und Stromwirtschaft ist jedoch, dass das Infragestellen des Rahmenbewilligungsverbots ablenke und die Energie und Zeit fehle, sich damit auseinanderzusetzen. Spätestens die für die nächsten Winter befürchtete Stromknappheit hätte zur Erkenntnis führen müssen, dass die Versorgung nicht bloss kurz- und mittelfristig, sondern auch langfristig nicht gesichert ist. Keine intellektuelle Energie und Zeit für die Energiezukunft aufbringen zu wollen, ist ein Armutszeugnis.

Die aktuell schlechte Stromversorgungssituation ist nicht allein mit der durch den Ukrainekrieg verschärften globalen und europäischen Lage zu erklären. Zu einem wesentlichen Teil ist sie hausgemacht, weil in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig in den Aus- und Umbau des Stromsystems investiert wurde. Stromwirtschaft und Politik gingen davon aus, dass der benötigte Strom auch künftig jederzeit günstig importiert werden könne. Dies rächt sich nun.

Der Bund hat für die kommenden Winter eine Reihe von Vorkehren gegen eine Stromknappheit erlassen. Sie sind mit bedeutenden Kosten verbunden. Für die Wasserkraftreserve 2022/23 von 400 GWh müssen 296 Mio. € aufgewendet werden, die Miete von 8 Gasturbinen in Birr kostet für 4 Jahre 470 Mio. Fr., ohne dass damit eine zusätzliche Kilowattstunde produziert würde. Dazu kommen weitere Massnahmen, insgesamt sind bereits rund 900 Mio.Fr. verpflichtet. Hier ist an die vorzeitige Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg zu erinnern. Es wurde wegen anstehenden Nachrüstungen aufgegeben, die zu 200 Mio. Fr. veranschlagt waren. Mit diesen hätte die Anlage noch längere Zeit betrieben werden können und im Winter 1500 GWh geliefert, und zwar bei zehnjährigem Weiterbetrieb zu Zusatzkosten von nur 1 Rp./kWh. Der 2013 unternehmerisch begründete Stilllegungsentscheid erweist sich heute als betriebs- und energiewirtschaftlich falsch.

Dr. Eduard Kiener ist ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Energie, Mitglied des Expertenbeirates des Energie Club Schweiz und im Komitee der Volksinitiative "Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)". Der Beitrag ist in gekürzter Erstfassung in der Aargauer Zeitung erschienen.

Die verhinderte Diskussion über neue Kernkraftwerke ist für die Schweiz ein intellektuelles Armutszeugnis. Im Bild: Das einst geplante Ersatzkraftwerk Mühleberg (Animation: zvg).