?
Danke für Ihre Anfrage. Wir werden uns so bald wie möglich bei Ihnen melden.

Werk des Zeitgeistes

Das Erbe von Bundesrat Leuthard rückt in den medialen Fokus – und wird zerpflückt.

Doris Leuthard suchte unlängst die Öffentlichkeit. Der Zeitpunkt für ihren ausführlichen Gastbeitrag in der NZZ zur Energiepolitik ist bezeichnend: Seit Monaten diskutiert man hierzulande darüber, ob wir im Winter mit Versorgungslücken beim Strom rechnen müssen. Und natürlich fragt man sich, wie sich die Schweiz, die einst über die sauberste und zuverlässigste Stromversorgung der Welt verfügte mit 60% Wasser- und 40% Kernkraft, in eine so ungute Lage manövrieren konnte. Da liegt es auf der Hand, die Rolle von alt Bundesrätin Doris Leuthard, welche die treibende Kraft hinter der sogenannten Energiestrategie 2050 (ES 2050) war, zu untersuchen. Deren Gastbeitrag in der NZZ muss denn auch als eine Art Verteidigungsschrift für ihre Rolle und die ES 2050 als solche verstanden werden.

Und so finden sich in Leuthards Beitrag wenig überraschend Sätze wie: «Die Energiestrategie stimmt in ihren Grundzügen bis heute»; «Die ES 2050 ist auf Kurs»; «Dass die Energiewende technisch anspruchsvoll, aber realistisch ist, hat übrigens seinerzeit auch die Überprüfung durch die ETH ergeben». Natürlich weiss auch die ehemalige Energieministerin, dass die Sache trotzdem nicht zum Besten steht. Selbstkritisch schreibt sie an anderer Stelle: «Was wir wohl ungenügend vorangetrieben haben, sind die Speicherlösungen.» Auch die kostendeckende Einspeisevergütung hätte höher angesetzt werden müssen, so Leuthard weiter. Dass das mit der ES 2050 beschlossene Neubauverbot für Kernkraftwerke angesichts der geänderten geopolitischen Gegebenheit ein Fehler war, sieht sie jedoch nicht ein.

Stattessen wiederholt Leuthard Rezepte, welche uns überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht haben: So appelliert sie für mehr Energiesparen, für den Ausbau der Erneuerbaren Energien und eine Kooperation mit der EU. Dass wir nicht weniger Strom, wie die «ES 2050» behauptete, sondern mehr verbrauchen, scheint in ihrer Argumentation irrelevant. Dass der Ausbau der Erneuerbaren stockt und zur Versorgungssicherheit im Winter nur bedingt taugt, ist ihr ebenfalls kein Wort wert. Dass deshalb Gaskraftwerke ursprünglich ein Bestandteil der Energiestrategie waren, durfte vor der Abstimmung nicht mehr gesagt werden, denn populär waren diese nie. Und so kommt es halt, wie es kommen musste: «Lasst uns unsere Heizungen zwei Grad tiefer stellen und einen Pullover anziehen, statt im T-Shirt herumzulaufen.» Könnte es eine klarere Antwort auf die Frage geben, ob die ES 2050 funktioniert?

Richtig brutal wurde es für Leuthard dann zwei Tage nach der Publikation ihres Gastbeitrages: In derselben NZZ, in der sie sich rechtfertigte, folgte eine schonungslose Abrechnung mit Leuthard als Energieministerin und der Energiestrategie als solches. Das Fazit der Autoren aus der Inlandredaktion: «Die Energiestrategie von Doris Leuthard war ein Werk des Zeitgeistes und das Werk einer Politikerin, die ein starkes Sensorium dafür hatte, wie sich dieser in politische Energie verwandeln lässt. Aber der Zeitgeist kann schnell drehen.» Dazu gehört ihre Fähigkeit ihren Standpunkt flexibel den Umständen anzupassen. Die Autoren illustrieren das mit schönen Beispielen.

Leuthards eigener Gastbeitrag in der NZZ trug den Titel: «Wir sind ein kluges Volk.» Da mag sie recht haben. Und gerade deshalb wollen immer mehr Leute die Energiestrategie 2050 hinter sich zu lassen und unsere Energiepolitik auf ein neues Fundament stellen.

Die Energiestrategie von Doris Leuthard war ein Werk des Zeitgeistes.